"A Murder at the End of the World": So fahren sie singend durch die Nacht (2024)

Eine Kolumne von Matthias Kalle

Ein Haufen Genies trifft sich im isländischen Extremwetter, und dann ist einer tot. "A Murder at the End of the World" ist Schneegestöber für Agatha-Christie-Fans.

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Jedes Wochenende die gleichen Fragen: Wer bringt die Kinder auf welchen Geburtstag,wann wartet man den Kaminschornsteinund wie optimiert man die ETF-Sparpläne? Zumindest um die Fernsehplanung müssen Sie sich keine Sorgen machen – unser TV- und Streamingexperte Matthias Kalle erklärt in seiner Kolumne "Da schau an!", welche Serien man wirklich gesehen haben muss. Dieser Artikel ist Teil vonZEIT am Wochenende, Ausgabe 45/2023.

Es gibt so eine Art grundsätzlicheDankbarkeit, die ich einigen Menschen gegenüber empfinde, weil sie mirGeschichten erzählen, von denen ich mich lange nicht erholt habe, also auf einegute Weise. Steven Spielberg, Virginia Woolf, Stephen King. Und Brit Marling.

Brit wer? Marling – US-amerikanischeDrehbuchautorin, Schauspielerin und Regisseurin, 41 Jahre alt. Ihre Serie TheOA, deren erste Staffel 2016 auf Netflix lief, hat mich damals berührt wiekaum eine andere Show. Marling hat sich die Serie ausgedacht, die Drehbüchergeschrieben und spielte die Hauptrolle Prairie Johnson, eine adoptierte blindeFrau, die sieben Jahre nach ihrem plötzlichen Verschwinden wieder auftaucht, nun sehen kann und sich OA nennt, kurz für Original Angel. Eine fantastischeGeschichte, die mich mit ihrem letzten Twist zu Tränen rührte – und der Grunddafür, dass ich mich 2023 auf keine Serie mehr gefreut habe als auf Marlingsneues Projekt A Murder at the End of the World, das nun bei Disney+ zusehen ist.

Es geht umDarby Hart (etwas zu erschrocken gespielt von Emma Corrin), deren VaterGerichtsmediziner war und sie von klein auf mitgenommen hat zu seiner Arbeit.Mordfälle werden ihr Hobby, im Internet ermittelt sie mit gleichgesinntenHobbydetektiven, einer von ihnen ist Bill (entrückt gespielt von HarrisDickinson). Die beiden verstehen sich gut, jagen gemeinsam einen Serienmörderund verlieben sich ineinander. Tatsächlich lösen sie den Fall, aber Billverlässt Darby, weil ihm das alles doch ein bisschen zu krass ist.

Was klingt wie das traurige Endeeiner Serie, ist in A Murder at the End of the World der Anfang. Darbyschreibt ein True-Crime-Buch über ihre Erfahrungen und liest daraus in einerBuchhandlung. Kurz darauf wird sie von dem Techmilliardär Andy Ronson zu einemRetreat in einem gottverlassenen Hotel nach Island eingeladen. Ronson (souverängespielt von Clive Owen) ist Elon Musk, Mark Zuckerberg und Frank Thelen ineiner Person: ein manischer, stinkreicher Superspinner, verheiratet mit DarbysTeenageridol, der legendären Hackerin Lee (zurückhaltend gespielt von BritMarling). Zunächst weiß Darby nicht, wie sie auf die Liste jener Genies gekommenist, die Ronson in das Hotel geladen hat. Beim ersten Abendessen sitzt sie zusammen mit einer Astronautin, einem Regisseur, einer Freiheitskämpferin und einerSmart-City-Visionärin. Dann taucht auch noch Bill auf, mittlerweile Lieblingskünstlerder Techwelt. Doch am Ende der ersten Folge ist Bill tot, alles sieht nacheiner Überdosis aus, nur Darby geht von Mord aus und beginnt ihre Ermittlungen.

A Murder at the End of the World hat ein klassisches Agatha-Christie-Setting: Mehrere Menschen sind aneinem Ort eingeschlossen, und einer von ihnen ist ein Mörder. Die Seriefunktioniert also nach dem Whodunit-Muster, bricht aber auch immerwieder damit, beispielsweise durch Rückblicke auf jene Zeit, in der Darby undBill ein verliebtes Ermittlerduo waren. Geneigte Leser wissen, dass ich keinFreund von Rückblicken bin. Hier erfüllen sie aber einen Zweck, sie treiben denHauptplot voran, und sie bilden ein Gegengewicht zur dunklen Eiseskälte Islands,denn sie spielen im grellen Licht US-amerikanischer Vororte. In einem derRückblicke findet auch eine wunderschöne Versöhnungsszene statt: Darby und Billhaben sich gestritten, schweigend sitzen sie im Auto. Sie wählt auf ihrem iPod(ja, es sind wirklich Rückblicke) die zufällige Wiedergabe aus, und eserklingen die ersten Takte von Annie Lennox' No More I Love You's. Dasist natürlich ein unangenehmer Zufall. Darby will nicht, dass das Liedplötzlich eine Bedeutung für ihre Beziehung bekommt, aber dann fängt Bill an,mitzusingen, und auch Darby stimmt ein. So fahren sie singend durch die Nacht: "I usedto be a lunatic from the gracious days."

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Es sind solche Momente, in denenBrit Marling ihr Talent für große Szenen beweist. The OA hatte noch mehrvon diesen Momenten als A Murder at the End of the World, entwickelteinsgesamt mehr erzählerische Wucht und musste sich für seinen letzten Twist –ohne hier zu viel zu verraten – auch nicht bei Dan Brown bedienen, was ja immereine schlechte Idee ist. Vielleicht gilt für Fernsehserien das gleiche wie fürMusikplatten: die zweite ist immer die schwerste.

Aber natürlich wird man A Murderat the End of the World auch nicht gerecht, wenn man die Serie nur mit demersten Werk ihrer Schöpferin vergleicht. Marling hat einen sehr guten modernenKrimi geschrieben, durch den nicht nur isländische Kälte weht, sondern auch daseine oder andere große Gegenwartsthema, von der Klimakatastrophe bis zurkünstlichen Intelligenz. Entfernt sich die Serie zu weit von ihrem Kern, kannsie unglaubwürdig erscheinen. Bleibt sie jedoch nah an ihren Figuren, entfaltetsie ihr erzählerisches Potenzial. Gut also, dass A Murder at the End of theWorld zwar nicht mit einem Cliffhanger endet, aber doch mit der Ahnung,dass noch mehr Fälle auf Darby Hart warten. Wer so viel Talent hat wie BritMarling, sollte der Welt ohnehin eine Serie pro Jahr schulden.

Die sechs Folgen von "A Murderat the End of the World" sind bei Disney+ verfügbar.

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Author: Allyn Kozey

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